Zum Mythos der Macht männlichen Wunschdenkens
Birgit Jürgenssens Reflexionen auf Geschlechterdogmen sind derzeit in einer Retrospektive im Bank Austria Kunstforum zu sehen.
„Es gab damals (Mitte der 1970er-Jahre, Anm.) einige namhafte männliche Künstler, die die Kunstszene in Wien dominierten und der Meinung waren, dass Frauen nicht zeichnen oder malen können. Das hat mich herausgefordert, diese Vorstellungen zu unterlaufen, sie zu illustrieren und darzustellen, als was man mich gesehen hat. Es war der Versuch, den Blick der von außen auf mich eindrang, ernst zu nehmen“, sagte Birgit Jürgenssen kurz vor ihrem Tod in einem Interview mit Rainer Metzger 2003.
Mit ihrem künstlerischen Schaffen zählt Birgit Jürgenssen (1949 – 2003) zu den wichtigsten Vertreterinnen der feministischen Avantgarde. Und obwohl ihr Werk in eine Reihe mit internationalen Künstlerinnen wie VALIE EXPORT, Maria Lassnig, Francesca Woodman, Cindy Sherman, Meret Oppenheim und Louise Bourgeois zu stellen ist, wurde ihr bisher keine vergleichbare Wertschätzung entgegengebracht. Wie so oft in der Kunstgeschichte muss ein/e großartige/r KünstlerIn zumeist schon tot sein, um erst dann in vollen Zügen geehrt zu werden. Abgesehen von einer Retrospektive im Landesmuseum Linz 1998 handelt es sich bei der Ausstellung im Bank Austria Kunstforum um die erste große Schau, die das Gesamtwerk der Künstlerin zeigt, und somit um die erste posthume Retrospektive überhaupt.
„Wie erfährt man sich im anderen, das andere in sich?“
Die rund 250 Arbeiten, darunter auch einige bisher unbekannte aus Jürgenssens Nachlass, die das Kunstforum gemeinsam mit der Sammlung Verbund präsentiert, beweist wie vielschichtig und stilistisch mannigfaltig das Schaffen der Künstlerin in mehr als drei Jahrzehnten sich gestaltet und entwickelt hat. Es reicht von Druckgrafiken, Zeichnungen, fotografischen Inszenierungen und performativer Körperkunst bis zu subversiven Objekten, beispielsweise des Schuhwerks. In dieser Vielfalt der Darstellungsweisen, in der sie oftmals postfeministische Praktiken vorwegnahm, vereinte sie literarische, philosophische und psychoanalytische Bezüge sowie das Spiel mit Metamorphosen. Wiedererkennbarkeit im Sinne eines „signature style“ findet sich bei Jürgenssen jedoch nicht, die Freude am Experimentieren war größer.
„Es ging ums Objekt. Die Identität der Frau ist zum Verschwinden gebracht, bis auf den fetischierten Gegenstand, dem Fokus männlichen Wunschdenkens“
Ende der 1960er-Jahre begann sie mit den Mitteln der Maskierung, vor allem mit Mensch-Tier-Verwandlungen, und des Rollenspiels gesellschaftliche und kulturelle Konstruktionen, die patriarchalen Dogmen von Weiblichkeit selbstironisch und subversiv zu kritisieren. Dabei bildete ihr eigener Körper zugleich Zentrum und Ausgangspunkt ihrer künstlerischen Aussagen. Er diente ihr als Ort der Intervention und sie entschleierte ihn als Projektionsfläche sowohl sozialer als auch kultureller Codes, die für Frauen nicht nur sexistische Determinierungen beinhalten, sondern sich zumeist darin erschöpfen. „Durch die Strategien von Selbstironie, Subversion und Bedeutungsverkehrung legt Birgit Jürgenssen die konventionellen Darstellungsformen des Weiblichen bloß und lässt dabei jeden ‚orthodoxen’ Feminismus hinter sich“, heißt es im Katalog zur Ausstellung. Für Birgit Jürgenssen selbst war „Selbstironie eine Form autobiografischer Strategie, um subversives und dekonstruktives Potenzial leichter zu vermitteln“.
„Ich würde es nicht Tarnung nennen. Es ist bei mir eher eine surreale Praxis durch Verschleiern sichtbar zu machen“
Obwohl die Künstlerin sich selbst zum Modell nahm, ging es ihr nie um Selbstbildnisse. Sie stellte sich dar und maskierte sich, „weil es weniger um mich als darum geht, in andere Rollen und Identitäten zu schlüpfen“, erklärte sie. Mit den Masken und Posen versuchte sie Identitätsgrenzen zu überschreiten, jene zwischen den Geschlechtern als auch jene zwischen Mensch und Tier, Mensch und Objekt und zwischen belebtem und unbelebtem Körper. Als Darstellungsweise diente ihr zumeist die Fotografie mittels Selbstauslöser, provokative öffentliche Performances, wie sie speziell in den 1970er-Jahren – denken wir zum Beispiel an das Taps- und Tast-Kino von VALIE EXPORT – praktiziert wurden, waren nicht ihr Fall. Dazu „war ich zu scheu“, erzählte sie einmal.
„Für mich war es immer reizvoll, über die Abbildung hinaus etwas Fiktives, Irritierendes zu machen… Es war für mich unmöglich zu zeichnen, ohne ein Stück Literatur im Kopf zu haben“
Auch ihre bis dato nicht veröffentlichten, und nun in der Schau ausgestellten frühen Badezimmer-Fotografien machte sie ganz alleine und intim mit Selbstauslöser, wobei der Fotoapparat deutlich zu sehen ist. Diese Fotos und ihre „Hausfrauen-Zeichnungen“ bezeichnete Birgit Jürgenssen als Beginn ihrer künstlerischen Selbstanalyse, die übrigens einen Schwerpunkt ihrer Arbeit stellt, genauso wie die Themen Liebe, das Unheimliche, Sprachspiele, Fragmentierung, Montage und die oben beschriebenen Verwandlungen.
Wie weit Birgit Jürgenssens Gestaltungswille auch in das Ausstellungsdesign hineinwirkte, veranschaulicht die Rekonstruktion ihrer Installation aus der Ausstellung „10 Tage – 100 Fotos“, die 1981 in der Galerie Hubert Winter gezeigt worden ist: in einem Tableau sind verschiedene performative Arbeiten, Polaroids und Selbstdarstellungen mit Fellchen ausdrucksstark verbunden.
Die Retrospektive, die noch bis 6. März 2011 zu sehen ist, bietet sowohl in der Gliederung als auch in der Anordnung der Werksammlung und anhand der an den Wänden der Ausstellungsräume entlang laufenden Zitate der Künstlerin einen guten Einblick in das äußerst vielfältige Schaffen von Birgit Jürgenssen.
Ein Wermutstropfen ist dennoch zu nennen: nur ein einziges, noch dazu sehr kurzes Video zeigt die Künstlerin in ihrem Atelier bzw. ihrer Wohnung. Auch mehr als sieben Jahre nach dem Tod Birgit Jürgenssens hätte eine gewisse Lebendigkeit, die mittels filmisch dargestellter Interviews und anderer Dokumentationen zu schaffen gewesen wäre, dieser Schau gut getan und zur Reduzierung einer gewissen spür- und sichtbaren Sterilität verholfen.
Zeittafel – Skizzen ihrer Biografie
„Ich finde es gut, wenn es aktiven Feminismus gibt – als Parallelaktion. Doch glaube ich nicht, dass man ihn benützen sollte, um Karriere zu machen“, meinte Birgit Jürgenssen in Anspielung an Frauen, die sich das emanzipatorische Klima der Kunstszene in den 1970er-Jahren zunutze gemacht hatten, um als Galeristinnen durchzustarten und kurz darauf Feminismus und die Solidarität zu anderen Frauen zu vergessen.
1949 Birgit Jürgenssen wurde am 10. April 1949 in Wien als zweites Kind einer Arztfamilie geboren. Als Achtjährige begann sie Bilder von Pablo Picasso abzuzeichnen und sie mit „Bicasso Jürgenssen“ zu signieren; als Mädchen wurde sie nämlich „Bi“ genannt.
Mit 14 erhielt sie ihre erste halbautomatische Kamera und fotografierte „damals fast ausschließlich kleine Gegenstände, die ich vorher selbst anfertigte. Meist sollte alles in einem Farbton gehalten sein“.
Nach der Matura beschäftigte sie sich mit Surrealismus, Psychoanalyse, der Philosophie des Strukturalismus und der Ethnologie von Claude Lévi-Strauss, die ihren geistigen Horizont erweitern und auf ihr künstlerisches Schaffen Einfluss haben sollten.
1967 wurde sie überraschenderweise ohne Grundstudium an der Meisterklasse für Grafik von Prof. Franz Herberth an der Hochschule für angewandte Kunst in Wien aufgenommen, wo sie 1971 ihren Abschluss machte und für ihre Diplomarbeit „Zipfeln“, einer Mappe mit 42 Zeichnungen, den Förderungspreis des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung und den Wolfgang Hutter-Preis erhielt.
1972 heiratete sie den Bildhauer Bernd Hans Klinger.
1973 begann sie autodidaktisch mit Schwarz-Weiß-Fotografie zu experimentieren.
1975, dem Internationalen Jahr der Frau, nahm sie an der von VALIE EXPORT kuratierten Ausstellung MAGNA –(Feminismus:) Kunst und Kreativität teilt, wo sie u.a. ihre Hausfrauen-Küchenschürze vorstellte. Außerdem stellte sie im Völkerkundemuseum aus.
1978 folgte eine Einzelausstellung in der Grafischen Sammlung Albertina in Wien.
1980 war sie etwa ein Jahr lang als Lehrbeauftragte in der Meisterklasse von Prof.in Maria Lassnig an der Hochschule für angewandte Kunst in Wien tätig.
1982 folgte eine Lehrtätigkeit in der Meisterklasse von Arnulf Rainer, wo sie zwanzig Jahre hindurch unterrichtete.
1984 nahm sie an der 5. Biennale in Sydney teil und hatte eine Einzelausstellung in der Jack Tilton Gallery in New York.
1988 gründete sie die Künstlerinnengruppe DIE DAMEN gemeinsam mit Ona B., Evelyne Egger und Ingeborg Strobl; Performances bis 1995. Im selben Jahr stellte sie in der Graeme Murray Gallery in Edinburgh aus.
1991 Einzelausstellung in der Mario Flecha Gallery in London.
1994 Kuratorin der Ausstellung „Wenn die Kinder sind im Dunkeln…“ in der Wiener Secession.
1997 Einzelausstellung in der TZ-Art Gallery in New York.
1998 Retrospektive im Landesmuseum Linz.
2001 Kuratorin des Österreich-Beitrags bei der 8. Biennale in Kairo.
Bei einer Routineuntersuchung wurde in diesem Jahr ein Pankreastumor festgestellt.
2003 Birgit Jürgenssen starb am 25. September in Wien.
(Dagmar Buchta/dieStandard.at, 15.01.2011)