Wo Gefühle das Wichtigste sind
Anders zu sein als der Durchschnitt ist hier gelebte Normalität. Ein Besuch bei den Aktionsnachmittagen der Wiener Kinderfreunde für Kids mit Behinderung.
Helles Kinderlachen, fröhliches Gewurl. Als ich mit der Fotografin in den Räumen der Wiener Kinderfreunde im 8. Gemeindebezirk eintreffe, ist die Stimmung ausgelassen – und die Freude groß. So wie beim blonden, etwa achtjährigen Mädchen im rosa Pulli. Es stürmt auf mich zu und umarmt mich. Das wiederholt sie an diesem Nachmittag noch einige Male. Gerührt über die spontane Gefühlsäußerung erkenne ich, dass es hier – wie sonst kaum wo – nicht darum geht, „etwas“ darzustellen, sondern darum, ganz einfach „Ich“ zu sein, ehrlich und authentisch. „Viele der Kinder sind nur über Gefühle erreichbar“, bestätigt mir auch sogleich Vera Lindholm, die seit vier Jahren als Behindertenfachbetreuerin bei den Kinderfreunden arbeitet. „Verstellen ist nicht möglich, sie durchschauen dich sofort und geben dir unverblümt Feedback“.
Integration in der Gruppe ist Voraussetzung
Die Kinder und Jugendlichen, die jeden zweiten Samstag zu den Aktionsnachmittagen der Kinderfreunde zusammenkommen, sind anders: intuitiver, emotionaler, offener und direkter. Merkmale, die laut Psychologie mit ihren geistigen Handicaps korrelieren. „Art und Grad ihrer Beeinträchtigung sind sehr unterschiedlich“, erklärt Lindholm. „Manche kommen zwar im Alltag recht gut zurecht, haben aber Probleme mit abstrakten Dingen. Die Handicaps reichen von einer Lernbehinderung bis zum Down-Syndrom“. Prinzipiell sei der Grad der Behinderung kein Kriterium für die Aufnahme in der Gruppe, versichert Lindholm, wohl aber die Anpassungsfähigkeit des Kindes: „Es muss in der Gruppe integrierbar sein. Bei starken Aggressionen geht das nicht…“.
Das wäre schon alleine aufgrund der Gruppengröße unmöglich. Immerhin sind zwanzig Kinder und Jugendliche zwischen sechs und achtzehn Jahren zu beaufsichtigen. Mit der Betonung auf besondere Bedürfnisse. „Es ist unbedingt nötig, auf jedes einzelne Kind richtig einzugehen“, erklärt Betreuerin Iris Jung. Und deshalb kommen auf eine Betreuungsperson höchstens zwei Kinder. Die 23-jährige Studentin der Bildungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Heilpädagogik ist seit Herbst im Sonderbetreuungsteam der Kinderfreunde tätig und wurde dafür grundlegend ausgebildet, Pflege- und Erste Hilfe Kurs inklusive. So wie auch alle anderen Betreuerinnen – ganz gleich ob sie akademische Heilpädagoginnen oder Behindertenfachbetreuerinnen sind – erst nach gründlicher theoretischer Schulung und ausreichender Praxis eingesetzt werden.
Ob Kreativität oder Wissen: Freude ist alles
Die Aktivitäten an den Aktionsnachmittagen sind sehr gemischt. Von Zeichnen, Basteln, Singen und Tanzen bis zu Ausflügen in die Natur oder ein Museum wird so gut wie alles angeboten, um die Kids und Teenies zu erfreuen – und ganz nebenbei spielerisch zu fördern. Dabei geht es nicht nur darum, ihre haptischen Fähigkeiten und ihr kreatives Potential anzuregen, Wissen zu vermitteln und den Blick auf die Welt zu erweitern, im Vordergrund steht die Freude. Ganz simpel: die Lust am Tun, am Erleben und dem Ausdruck von Gefühlen. Während die Hälfte der Gruppe in den Räumen der Kinderfreunde lustvoll werkt oder ausgelassen tanzt, schwirrt die andere Hälfte aus – je nach Wetter zu einer Ausstellung oder in die grüne Natur.
Als das Projekt vor vier Jahren ins Leben gerufen wurde, war die Nachfrage schon sehr groß. Viele Eltern wünschten sich eine Sonderbetreuung für ihre Sprösslinge auch unterm Jahr, denn bis dahin wurde sie nur in den Sommer- und Semesterferien angeboten. Neben ihrer eigenen Entlastung sollten vor allem die Kinder profitieren, in dem sie regelmäßig und nicht nur einmal oder zweimal im Jahr zusammen kommen und ihre Freundschaften genießen können. Wie gut ihnen das tut, davon konnten wir uns überzeugen.
Von den Kids fürs Leben lernen
Aber es sind nicht nur die Kinder, denen die Aktionsnachmittage bekommen. „Seit ich Freizeitpatin bei den Kindern mit Behinderung bin, sehe ich erst so richtig, worauf es ankommt im Leben“, berichtet die ehrenamtliche Betreuerin Maria Frühmann. „Ich bin jetzt viel aufmerksamer meiner Umwelt gegenüber. Hier kann ich etwas Sinnvolles tun, das ist eine gute Schule fürs Leben“. Die Erfahrung mit den Kindern hat auch Iris Jungs Blick auf die Welt verändert: „An der Uni kriegst du immer nur theoretischen Input. Die Praxis ist ganz anders, schöner. Ich empfinde es als Bereicherung“. Das meint auch die Lehramt-Studentin Martina Baumgartner, die seit drei Jahren in der Sonderbetreuung mithilft: „Die Theorie ist das eine, ein wichtiger Hintergrund. Aber erst durch die praktische Erfahrung lernst du Wesentliches“. Dass sie dabei manchmal an ihre Grenzen stößt, sei ein Geschenk. Genauso wie die Dankbarkeit der Kinder: „Sie bringen mir totale Wertschätzung entgegen, das ist unglaublich schön. Ich hab’ das Gefühl, dass sie mich wirklich lieben!“
(WIENERIN mit Kind, März 2013)
Info:
Aktionsnachmittage der Wiener Kinderfreunde
Sonderbetreuung jeden zweiten Samstag 14-18 Uhr
1080 Wien, Pfeilgasse 10-12