Diane Torr: „Wie es ist, ein Mann zu sein“

Geschlecht ist reine Konstruktion“ postuliert die Performancerin und unterrichtet Frauen deshalb im „Mannsein“. Wie begehrt der Rollentausch ist, beweisen ihre „Man for A Day“-Workshops seit 25 Jahren.

Als kleines Mädchen hat es die eine oder andere vielleicht schon ausprobiert und ging als Indianer, Ritter oder Cowboy zum Maskenball. Doch das waren lediglich Verkleidungen, die mit der männlichen Rolle nur am Rande zu tun haben. Im Workshop „Man for A Day“ der Performancekünstlerin Diane Torr geht es um weit mehr. Hier haben Frauen die Chance, ihrer sozial konstruierten weiblichen Identität zu entfliehen und am eigenen Leib zu erfahren, wie es sich anfühlt, ein Mann zu sein. Das Wesentlichste dabei: Sie erkennen, dass traditionelle Rollenkorsette sprengbar und erweiterte Identitäten möglich sind. Anschaulich werden solche Verwandlungen im gleichnamigen Film von Katarina Peters (Man For A Day), der vor kurzem auf ZDF gesendet wurde. Dagmar Buchta sprach mit der schottischen Künstlerin über Rollenklischees, den „neuen Mann“ und eine mögliche Zukunft jenseits obsoleter Geschlechterkategorien.

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dieStandard.at: In Ihren Workshops bringen Sie Frauen bei, sich in „Männer“ zu verwandeln – wie läuft das ab?

Diane Torr: Ich zeige Ihnen, wie sie sich Bärte ankleben, die Frisur verändern, die Hose ausstopfen und sich so zu kleiden, um tatsächlich für Männer gehalten zu werden. Das ist aber nur äußerlich. Wichtiger ist, dass jede Teilnehmerin einen männlichen Charakter für sich findet. Durch Beobachtungen auf der Straße oder in einem Café sucht sich jede einen Mann aus, den sie in der Art, wie er geht, sitzt, sein Handy benützt, gestikuliert etc. nachahmen soll. Wesentlich ist dabei, kein Klischee von Männlichkeit nachzuspielen, sondern einen ganz spezifischen Typus. Sie üben diesen Charakter im Workshop und erproben ihre neuen Identitäten zum Schluss in der Öffentlichkeit.

 

dieStandard.at: Und welche konkrete Absicht verfolgen Sie damit?

Diane Torr: Ich möchte zum Denken anregen, dass die Rollen vom Mann- und Frausein kulturell konstruiert und deshalb veränderbar sind. Ein Verhalten, das als „unweiblich“ gilt, kann manchmal lebensrettend sein – wie z.B. im Falle eines Angriffs laut zu schreien. Das anerkannte weibliche Verhalten in dieser Situation ist, sich ängstlich zu ducken und auf Rettung zu hoffen. Eine Frau, die sich wehrt, gilt gemeinhin als untypisch und sogar suspekt. Umgekehrt wird ein Mann, der weint, meist als Schwächling bezeichnet. Auch von ihm wird erwartet, seine Gefühle zu unterdrücken und „ganz Mann zu sein“.

 

dieStandard.at: Das heißt, es geht Ihnen um die Aufhebung geschlechtsspezifischen Verhaltens?

Diane Torr: Die Frauen erfahren eine Transformation, sie werden sich verschiedener gewohnter Verhaltensweisen bewusst – wie immerzu lächeln, nickend zuzustimmen, sich zu entschuldigen usw. Sie entdecken, dass sie die als normal geltenden Reaktionen verwerfen und neue Wege der Interaktion kreieren können. Idealerweise hat diese Erkenntnis den Effekt, dass sie ihre Wahrnehmung von sich selbst beeinflusst und ihnen die Möglichkeit gibt, andere Verhaltensweisen zu wählen, beispielsweise im Umgang mit Konfrontationen, wie sie in einer Interviewsituation reagieren oder wenn sie um eine Gehaltserhöhung fragen. Ich bekam von vielen Frauen das Feedback, dass das Aneignen einer anderen Körpersprache und „männliches“ Benehmen sich positiv auf ihr Leben auswirken.

 

dieStandard.at: Ein Beispiel für einen besonders erfolgreichen Workshop?

Diane Torr: Bei einem Workshop in Braunschweig besuchte ich die Shark Bar, begleitet von zwei Frauen, die als Männer besonders hip und cool aussahen. Während ich in meiner männlichen Charakterrolle mit einem Bier an der Bar saß, spielten die zwei „neu gewonnenen Männer“ Tischfußball. Plötzlich wurden sie von zwei Männern zu einem Spiel aufgefordert. Etwas erschreckt stimmten sie zu. Doch dann versanken sie im Spiel, als gäbe es kein Morgen – und zu ihrer großen Überraschung gewannen sie. Sie strahlten über ihre neu gewonnene Fähigkeit, und es war klar, es war ihr Auftritt als Männer, der es ihnen ermöglichte, zu gewinnen! Denn die eine hatte nie zuvor gespielt, und die Andere hatte nur zweimal gespielt und beide Male verloren. Nun wussten sie, dass sie Tischfußballspielen und sogar gewinnen können. Das Geschlecht ist irrelevant.

 

dieStandard.at: Welche Motive führen die Teilnehmerinnen in Ihren Workshop?

Diane Torr: Das ist ganz unterschiedlich. Manche Frauen sind einfach neugierig und haben Fantasien, wie sie als Männer sein könnten. Einige sind Opernsängerinnen, die „Hosenrollen“ spielen sollen und deshalb männliches Verhalten lernen wollen. Für andere ist es ein sexueller Nervenkitzel – sie treffen sich nach dem Workshop mit ihrer Freundin oder ihrem Freund für eine Nacht mit ausgelassenem Rollenspiel. Wieder andere wollen wissen, wie Männer dazu kommen, sich privilegiert zu fühlen und ein Recht auf ihre Aktionen zu haben. Einige Frauen sind Unternehmens- oder Lebensberaterinnen und wünschen sich Tipps für ihren beruflichen Alltag. Und viele wollen einfach nur Spaß haben.

 

dieStandard.at: A propos Spaß: Sie selbst schlüpfen oft in männliche Rollen, sowohl als Drag-King als auch bei den Workshops – was gefällt Ihnen dabei am besten?

Diane Torr: Durch die Welt zu gehen, ohne ein Objekt der Begierde zu sein. Andere beobachten zu können, ohne selbst beobachtet zu werden. Oder auch z.B. Raum einzunehmen: Wenn ich als „Mann“ auf der Straße gehe, weichen die Menschen aus, das ist eine Erfahrung, die Frauen nicht kennen. Es wird überall erwartet, dass Frauen Platz machen, während Männer sich ihren Raum einfach nehmen.

 

dieStandard.at: Inwieweit nützen Sie Ihre „männlichen“ Erfahrungen in Ihrem Frauenalltag?

Diane Torr: Indem ich mir über 25 Jahre unterschiedliche männliche Verhaltensweisen angeeignet habe, gelingt es mir, die Grenzen der zugewiesenen Geschlechterrolle auszudehnen, ganz bewusst und spielerisch zugleich.

 

dieStandard.at: Gibt es einen Mann, tot oder lebendig, der Sie gerne sein würden?

Diane Torr: Sein nicht, aber spielen. Der Regisseur und Schauspieler Orson Welles wäre mal interessant.

 

dieStandard.at: Der Film „Man for a Day“ von Katarina Peters wurde von Frauen positiv rezipiert. Wie reagierten Männer darauf?

Diane Torr: Nach der Vorführung auf der Berlinale warf der Film eine Menge Fragen auf, sowohl von Männern als auch von Frauen. Es ist in der Tat ein umstrittener Film. Einige Männer meinten, der Film habe sie zum Nachdenken über ihr Bewusstsein von sich selbst angeregt, andere reagierten abwehrend und waren mit dem gesamten Konzept nicht einverstanden. Wie auch immer, ich glaube, die meisten Männer, die den Film sehen wollen, interessieren sich für Geschlechterrollen. Und sie dürften auch neugierig sein, ob wir als Frauen sie tatsächlich abstreifen können.

 

dieStandard.at: Und umgekehrt? Glauben Sie, dass der sogenannte “neue Mann” schon bald die Norm stellen könnte?

Diane Torr: Am Beispiel von Irland schaut es danach aus. Einer Meinungsumfrage im amerikanischen Magazin Newsweek zufolge ist das nämlich weltweit der beste Ort für Frauen Ein Großteil der Irländer kümmert sich neben der Arbeit um die Kinder, den Haushalt, das Kochen… Möglicherweise sind die irländischen Frauen fordernder und verlangen Gleichstellung mit den Männern. Vielleicht schätzen die irländischen Männer die Intelligenz der Frauen, und sehen ihre Teilnahme an der irländischen Kultur als wichtig für das gesellschaftliche Funktionieren. Dies scheint offensichtlich so zu sein, das ausgeprägte Selbstbewusstsein der Irländerinnen spricht dafür. Und ich würde meinen, dass ihre 50-prozentige Repräsentation im Parlament ebenso ein gutes Beispiel dafür ist.

 

dieStandard.at: Halten Sie es für möglich, dass diese Entwicklung voranschreitet und die Geschlechterrollen zukünftig indifferenter werden?

Diane Torr: Ich kann die Zukunft nicht voraussagen, aber seit den 50er- und 60er-Jahren haben sich die Geschlechterrollen dramatisch verändert: Frauen sind erwerbstätig, haben Einfluss auf die Geburtenkontrolle, leisten Beiträge in allen Bereichen, in der Forschung, der Politik, der Geschäftswelt, der Wirtschaft… Und Männer nehmen ernsthaft Anteil an feministischen Fragen, sie sind in der Elternschaft involviert, sie stehen zu ihrer Fähigkeit, zärtlich zu sein etc. Warum sollte die Entwicklung stoppen? Ich denke, dass auch die Transsexuellen wesentlich für diese Diskussion sind.

 

dieStandard.at: Weil auch sie die Rollen wechseln?

Diane Torr: Genau, sie leben die Erfahrung des Aufwachsens mit einem Geschlecht und später in ihrem Leben werden sie ein anderes. Jene von uns, die in der Geschlechterdualität verankert sind, können von transsexuellen Menschen viel lernen. Und wir müssen weiterhin fragen, ob die gesamte Auffassung von Geschlecht nicht einem Irrtum unterliegt.

 

dieStandard.at: Dem wir durch Rollentausch auf die Spur kommen können?

Diane Torr: Davon bin ich überzeugt.

 

(Dagmar Buchta/dieStandard.at, 28.11.2013)

Website von Diane Torr: http://dianetorr.com
Buchtipp: Diane Torr: „Sex, Drag and Male Roles. Investigating Gender as Performance”, Michigan Press 2010.