Vom Strauch in den Mund
Sie schießen wie Schwammerl aus dem Boden, sind gesund, ökologisch und sozial nachhaltig. Und können angeblich sogar die Welt retten: Nutzgärten in der Stadt.
„Wenn ich mein Gemüse selbst anbaue und großziehe, weiß ich, was ich esse“, nennt Annemarie Wallner eines von mehreren Argumenten, die für einen Nutzgarten sprechen. Ihre Früchte werden weder mit Pestiziden besprüht, noch der Boden mit Kunstdünger verseucht. „Und es ist nicht nur gesünder und schmeckt besser, es kommt auch viel billiger“, weiß sie aus eigener Erfahrung. Seit einem Jahr ist die 48jährige Wienerin Mieterin einer Öko-Ernteland-Parzelle in Wien Floridsdorf. Dort bestellt sie gegen ein Entgelt von 105 Euro pro Saison das Drittel eines Feldes im Ausmaß von 77 m2. Die restlichen zwei Drittel werden von der Organisation Öko-Ernteland (www.kleingaertner.at) selbst – nach ökologisch-biologischen Regeln und einem eignen Pflanzplan – bewirtschaftet. Das Jäten, Gießen und Ernten bleibt jedoch den MieterInnen überlassen.
Ökologisch und sozial
Mit der Ackerfläche erfüllte sich Annemarie Wallner den lange gehegten Wunsch nach einem „eigenen“ Garten, den sie nun gemeinsam mit ihrem Sohn und drei Freundinnen auf diese Weise realisierte. Zu fünft kostet die Pacht pro Person so gut wie nichts, und die Arbeit lässt sich problemlos aufteilen. „Wir sprechen uns ab, wer Zeit hat, auf das Feld zu schauen. Manchmal fahren wir auch alle gemeinsam hin. So ist es für niemanden eine Belastung“, erzählt sie. Mittlerweile gingen die Vorteile über den ökologischen Aspekt hinaus. Denn das gemeinsame Arbeiten auf dem Acker, die sozialen Zusammenkünfte mit angrenzenden ErntelandlerInnen und das anschließende Kochen und Essen in der Gruppe hätten einen Reiz, den sie nicht mehr missen möchte.
Mit dieser Anschauung ist Annemarie Weber schon lange nicht mehr alleine, sondern Teil einer über Europa hinausgehenden Bewegung, die sich aus verschiedensten Projekten zusammensetzt. Auch in Österreich sind in den vergangenen zehn Jahren viele und äußerst facettenreiche Garteninitiativen entstanden. Und sie werden laufend mehr. Kein Wunder! Folgen doch die meisten von ihnen den Empfehlungen des Weltagrarberichts 2010. Hier heißt es, dass die industrielle Landwirtschaft u.a. wegen ihres immensen Ressourcenverbrauchs und ihrer Abhängigkeit vom Erdöl nicht mehr in der Lage ist, die Menschheit zu ernähren. Der wichtigste Garant einer nachhaltigen Lebensmittelversorgung sei daher die Wiederherstellung kleinbäuerlicher Strukturen.
Auswege aus der Krise
Dass unendliches Wachstum utopisch ist, wird uns täglich vorgeführt: globale ökonomische und ökologische Krisen, sich verschärfende transnationale Ungleichheiten und zunehmend prekäre Arbeitsverhältnisse gehen einher mit Entsolidarisierung, Entfremdung und künstlich erzeugten Nahrungsmitteln. Lösungen sind gefragt, und zwar dringend. Der Garten als Subsistenzraum sei ein solcher möglicher Ansatz – auch in den Städten. Weltweit leben seit 2007 erstmals mehr Menschen in der Stadt als in der Provinz. Vom Land leben aber unwillkürlich alle. Was liegt also näher, als die Landwirtschaft in die Stadt zu holen? Geeignete Orte gibt es dafür viele: Großparkplätze, Parkhäuser, Einkaufszentren, Flachdächer, Bahndämme… Den BetreiberInnen urbaner Gartenprojekte geht es jedoch nicht nur darum, die städtischen Nahrungsversorgungssysteme ökologischer zu gestalten und die Ernährungssouveränität zurückzuerobern, sie streben auch soziale Veränderungen an. Nach dem Motto „Es gibt genug für alle“ sind viele der Gemeinschaftsgärten durch Solidarität motiviert, gegenseitiges Helfen, Teilen und Schenken sollen die egoistische Gier und Anhäufung von Besitz ersetzen.
Michele Obama lieferte ein Exempel. Vor zwei Jahren legte sie hinter dem Weißen Haus einen Nutzgarten mit Obst, Gemüse und Kräutern an. Davon profitiert neben der Präsidentenfamilie vor allem die nahe gelegene Armenküche „Miriam’s Kitchen“. Ihr geht es nicht nur um Gesundheit und Local Food, sondern auch um das Bewusstsein für Ressourcen und wie diese in einer Gemeinschaft aufgeteilt werden.
Entwicklung in 100 Jahren
Wirklich neu ist das Konzept des urbanen gemeinschaftlichen Nutzgartens dennoch nicht. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelte der deutsche Architekt Leberecht Migge Konzepte einer Gartenstadt. Sein Projekt „Das neue Frankfurt“ verfolgte das Ziel, jede Wohnung mit einem Garten zu versorgen. In „Jedermann Selbstversorger“ rechnete er vor, dass sich eine fünfköpfige Familie von 200 m2 Boden ernähren kann, wenn auf einem weiteren Pachtland derselben Größe das nötige Wintergemüse angebaut wird. Konzepte dieser Art gerieten leider durch den Zweiten Weltkrieg und den folgenden Wachstumsglauben der Wirtschaftswunderzeit in Vergessenheit. Erst in den 70er-Jahren erwachte das Bewusstsein erneut, als die KünstlerInnengruppe „Green Guerillas“ ihren politischen Protest durch Gärtnern im öffentlichen Raum ausdrückte. Aus diesem Signal für Selbsthilfe, Solidarität und Lebensqualität entwickelte sich das „Guerilla Gardening“, das zu den gegenwärtigen Gemeinschaftsgärten in der Stadt geführt hat. „Urban Gardening“ ist daher weitaus mehr als Lust am Gärtnern und Bio-Ernährung. Es kann, wie es Nadja Lopez von der alternativen Ökonomie in Argentinien ausdrückt, ein Weg sein, „um für eine gerechtere Gesellschaft zu kämpfen“.
(Dagmar Buchta/ Magazin COMPLIMENT, Mai 2011)
Buchtipp: Christa Müller (Hg.): Urban Gardening: Über die Rückkehr der Gärten in die Stadt. Oekom Verlag 2011