Eine Flaneuse bis zuletzt

Die Wiener Autorin und Kleidersammlerin Elfriede Gerstl setzte dem „Mangel trotzig die Fülle“ entgegen.

Nirgendwo bleiben zu dürfen, kann verinnerlicht werden. Immer nur flüchtig dasein, wenn auch nicht mehr auf der Flucht sein müssen. Als Jüdin hatte Elfriede Gerstl die NS-Zeit in verschiedenen Verstecken überlebt. Geblieben war ihr bis zu ihrem Tod die Unmöglichkeit, sich in so etwas wie einer „Heimat“ einzurichten.

Flucht und Mangel

Die Flüchtigkeit – niemals im Sinne von Oberflächlichkeit bei der Gerstl – „1942 packte mutter den kleinen fluchtkoffer / schwarze tuchmäntel aus den 30ern zurücklassend / wir werden nicht mehr soviel brauchen / sagt sie für mich merkwürdig rätselhaft“ – gespeist aus dem ewigen Mangel, den sie in „Kleiderflug“ erneut beschrieben hat, blieb: „literatur und sammeln entspringt einem mangel / irgend einem mangel trotzig die fülle entgegensetzen“.

Text und Textiles

Elfreide Gerstl wurde am 16. Juni 1932 in Wien geboren. Nach den Gräueln der NS-Zeit legte sie die Externistenmatura ab und begann 1952 ein Studium der Medizin und Psychologie, brach jedoch vorzeitig ab und heiratete Gerald Bisinger, mit dem sie eine Tochter hat. Seit Mitte der 1950er-Jahre publizierte sie Prosa und Lyrik.

Die 1960er-Jahre verbrachte sie als einzige Frau im Umkreis der Autoren der „Wiener Gruppe“ und frühen Aktionisten, die aus Wien vertrieben worden waren, in Berlin. 1972 kehrte sie nach Wien zurück, wo sie neben der Schriftstellerei journalistisch tätig war. Und hier begann auch das Tandeln mit Kleidern, leidenschaftliches Sammeln, lange Jahre in ihrem Lager in der Kettenbrückengasse, später in der Oberen Weißgerberstraße.

Elfriede Gerstls Texte sprechen durch ihren scharfen Blick. Traumatisierende Erfahrungen werden spürbar, ohne direkt angesprochen zu werden. Im Gegenteil findet geradezu eine Vermeidung statt, das Erlebte – jenseits von Pathos – wiederzugeben. Eine andere Art von Flucht vielleicht.

die depperte gewohnheit / gern im bett zu schreiben / rest aus der zeit wo mir kein eckerl eigen / kein tisch kein kasterl – gar kein ruheort…“, heißt es in „alle tage gedichte.

Die Antidogmatikerin

hörmal, sagte Grit …“, lässt Elfriede Gerstl ihre Figur in „Spielräume“ sagen, „… ich hab wohl eine Art Geisteskrankheit, dass ich es mir nicht in einer der konfektionierten wohlfeilen Ideologien warm und gemütlich machen kann … jeder Gläubige reizt meinen Widerspruch, weil aber auch alle Ideologien, Systeme, Kalküle ihre Seiten und Haken haben…“.

Dass Gerstl ob ihrer grandiosen literarischen Leistungen auf dem Literaturmarkt dennoch wenig bekannt ist, beweist, dass „entgegen allem euphorischen Gerede, hierzuland und jetztzuzeit ein bedeutender Autor, besonders eine Autorin, sehr wohl unpubliziert bleiben und ohne weiters auch zu Tode ignoriert werden kann“, wie es Andreas Okopenko auf den Punkt gebracht hat.

Späte Anerkennung

Würdigungen des Literaturbetriebs wurden der Autorin tatsächlich erst sehr spät zuteil. 1999 erhielt sie sowohl den Erich Fried Preis – den ihr damals die Alleinjurorin und Freundin Elfriede Jelinek zuerkannte – als auch den Georg Trakl Preis für Lyrik. Es folgten 2003 die Goldene Ehrenmedaille der Stadt Wien, im Jahr darauf der Ben- Witter- Preis, für den ebenfalls die Literaturnobelpreisträgerin die Laudatio hielt, und 2007 der Heimrad- Bäcker- Preis.

Elfriede Gerstl verstarb 76-jährig am 9. April 2009 nach langer schwerer Krankheit in Wien.

(dabu/dieStandard.at 11.04.2009)