Die sexuelle Revolution ist nur kalter Kaffee
Anja Meulenbelts feministischer Bestseller „Die Scham ist vorbei“ analysiert anhand ihrer persönlichen Geschichte die Beziehungen der Geschlechter zur Zeit der 1968-Revolten.
„Bist du dir vielleicht zu gut dafür, so einfach nur zum Spaß zu bumsen? Fragt ein Mann mich sarkastisch. Genau, sage ich … Jeder ist zu gut dafür, für blutarme emotionslose gymnastische Übungen. Ich finde es auch langweilig. Es gibt Grenzen der Anzahl von Arten, in denen du Körperteile ineinander schieben kannst …“.
Anja Meulenbelts persönliche Erzählung „Die Scham ist vorbei“ erschien 1976, in der Hochblüte der sogenannten „sexuellen Revolution“, ein Begriff, der bis heute mit hartnäckigen Klischees und Missverständnissen sowie einem grundlegenden Verständnis von Ungleichheit zugunsten einer androzentrisch ausgerichteten Gesellschaft konnotiert wird.
Die Kritik an Kapitalismus, Ausbeutung und Eigentumsdenken, welche die linken Gruppen seit 68er-Bewegung lauthals verkündeten, macht/e jedoch dort halt, wo es ums Eingemachte geht. Geschlecht als Kategorie, die noch vor den Differenzierungen in Klasse und Ethnie grundlegende Unterscheidungen des „Teile und herrsche“-Prinzips determiniert, wurde zwar diskutiert, jedoch als unwesentlich, als so genannter Nebenwiderspruch abgetan.
Von diesem Ungleichgewicht war auch die groß ausgerufene „sexuelle Freiheit“ betroffen und vor allem die Frauen nicht zuletzt aufgrund der Erfindung der Anti-Baby-Pille unter den Druck gelangt, jederzeit sexuell verfügbar zu sein. Dass dieses Konzept weniger freiheitsfördernd denn alte Geschlechtermythen tradierend wirkt, bringt Anja Meulenbelt auf den Punkt: „Die ganze sexuelle Revolution ist nur kalter Kaffee. Und außerdem eine typisch kleinbürgerliche Überbauerscheinung“. An diesem Dilemma konnte auch die damals zum Leitspruch ernannte Erkenntnis – „das Private ist politisch“ – nichts ändern. Frauen und deren Unterdrückung wurden nach wie vor in die Privatsphäre verwiesen. Als „Nebenwiderspruch“ eben.
Zwischen Revolte und tradierten Rollen
Wenn Anja Meulenbelt in diesem Buch ihre ganz persönliche Geschichte erzählt, handelt es sich doch um einen Bericht, der ganz und gar als paradigmatisch für das Leben einer Feministin in den 70er-Jahren und somit als politisch aussagekräftig betrachtet werden kann. Die Schwierigkeiten, die aus der Kluft zwischen Theorie (Gleichheitsrevolte) und Praxis (konservativistische Geschlechterrollen) auf die Ich-Erzählerin wirken, geben ihr das Gefühl, zwischen zwei oder mehreren Stühlen zu sitzen. Als politisierte Frau kann sie nicht einfach zurückschlüpfen in eine „Weibchenrolle“, zu deutlich ist ihr Blick inzwischen geworden: „Überempfindlich, zu emotional, vielleicht sogar paranoid. Ich sehe wie in grellem Scheinwerferlicht, zehnfach vergrößert, die täglichen Details des Schmerzes anderer Frauen. Ich habe keine Abwehr mehr dagegen, keine Scheuklappen, ich sitze mittendrin wie ein Muscheltier ohne Schale“.
Darüber hinaus sieht sie sich als Feministin mit dem Vorurteil konfrontiert, die Frauenbewegung sei nichts anderes als eine „homosexuelle Verschwörung“ gegenüber Männern. Die alltäglichen Gehässigkeiten von außen machen ihr genauso zu schaffen, wie das Problem der Rechtfertigung und des Wehrens gegen derartige Attacken. Ihr frauenpolitisches Engagement bringt ihr Beschimpfungen wie „Männerhasserin“ ein. Sie notiert: „als ob die Menschen, die mit Jungarbeitern arbeiten, per Definition alte Leute-Hasser sind“.
Im persönlichen Erleben und in der Beobachtung anderer Frauen fühlt sie sich oft unsicher, wie das alles zu schaffen sei, wie das „richtige“ Umsetzen eines relativ freien, glücklichen Lebens funktionieren könnte. Stimmen die Theorien nicht „oder dürfen wir uns erlauben, zu versagen, öffentlich, ohne Scham, stolz zu versagen und wieder neu zu beginnen?“, fragt Anja Meulenbelt und entscheidet sich schlussendlich für das Versagen-Dürfen. Sie gesteht sich das Scheitern zu und ebenso, die eigenen Wunden zu lecken. Schämen will sie sich nicht mehr dafür: „Selbstmitleid? Sicher. Ich kann in Selbstmitleid schwimmen. Nachtragend? Auch das. Aber keine Scham. Die Scham ist vorbei“.
„Ausverkauf der Träume“
Die literarische Aufarbeitung ihrer Schwierigkeiten erfolgt in drei großen Kapiteln, in denen sie zwischen Vergangenheit und Gegenwart hin- und herschwenkt. In „Ausverkauf der Träume“ beschreibt sie die Flucht aus einem engen Elternhaus. Sie will unabhängig und frei sein, ein neues Leben. Mit sechzehn ist sie schwanger. „Ich turne am Reck und springe von Stühlen. Es hilft nichts“, ein illegaler Abtreibungsarzt lässt sich nicht finden. Noch bevor das Kind geboren ist, muss sie heiraten. Als ihr Sohn drei Tage alt ist, flüstert ihr der Ehemann zu: „Ich habe darüber nachgedacht, wenn wir ihm genug Schlaftabletten geben, dann sind wir ihn los“. Eine düstere Zeit beginnt, der Mann schlägt das Kind, die Beziehung wird immer eisiger, sie ist isoliert, in einer schäbigen Wohnung, alleine mit ihrem Sohn, kaum Geld zum Leben. Ängste. Depression. Von wegen Freiheit!
„Die sexuelle und andere Revolutionen“
Nach der Scheidung scheint es langsam aufwärts zu gehen. Die Problem mit ihrem Ex-Mann, der versucht ihr das Kind wegzunehmen und ihr heimlich auflauert, besteht zwar fort, genauso wie die ärmlichen Lebensbedingungen, doch sie schafft eine Ausbildung zur Sozialarbeiterin und richtet ihre erste eigene Wohnung ein. Verliebt sich, anfangs schaut es rosig aus, sie scheint endlich das Glück gefunden zu haben. Doch bald schon entpuppt sich die gegenpolige Anziehung als unmögliche Zusammenführung zu einer wenigstens relativ ausgewogenen Einheit. Andere Männer folgen. Viele Männer. Im Prinzip ist es immer dasselbe: wenig Verständnis und viel Sex ohne Liebe. „Was muss ich sagen? Dass er nicht nur mit seinem Pimmel Liebe machen soll?“, schreibt Meulenbelt.
Bei Shulamit Firestone liest sie, die sexuelle Revolution sei zwar sexuell, aber nicht revolutionär. Den Männern gehe es hauptsächlich um Sex und darum, von Frauen geliebt zu werden, und deshalb sei Liebe zwischen Ungleichen unmöglich. „Und wir sind ungleich“, analysiert Meulenbelt. „Wir erhalten die Ungleichheit aufrecht, indem wir die Spielchen mitspielen, auf ihre Bedingungen eingehen, weil wir so fürchten, ohne Liebe leben zu müssen … Wir begnügen uns mit dem Surrogat, weil wir Angst haben vor der Einsamkeit. Die sexuelle Revolution eine Fallgrube, in die wir blindlings laufen. Früher ließen wir uns sagen, dass wir schlecht sind, weil wir nicht bumsen“. Heute würden die Frauen die Männer nachahmen, doch das bringe nichts weiter, „als die emotionale Armut, unter der Männer leiden“.
Aber nicht bloß das „so viel wie möglich bumsen“-Wollen – ohne große Gefühle, nur zum Spaß und als eine Art Freundschaftsdienst – ist den linken Männern, mit denen sie arbeitet und lebt, vorrangiges Bedürfnis. Auch die Geschlechterrollen sollen unangetastet bleiben. In marxistisch-leninistischen Gruppen diskutieren sie großspurig über Gleichheit und erwarten, dass Frauen die Manuskripte tippen und Kaffee kochen. Sie ereifern sich im Kampf gegen Rassismus, aber „Sexismus ist für die Leute dort ganz normal“.
„Eine öffentliche Frau“
Im dritten Teil des Buches beschreibt Anja Meulenbelt den Abschied von ihren bisherigen Vorstellungen, Wünschen und Hoffnungen, der alles andere als leicht von statten geht. Sie fühlt sich entwurzelt: das alte und lange gewohnte Leben in der Männerwelt funktioniert nicht mehr, das neue ist noch nicht gefestigt. „Unwiderruflich aus meinem Milieu gefallen, und ich kann nicht mehr zurück, nie wieder“. In den ersten Frauengruppen, die bereits bestehen, macht sie sich auf die Suche nach Gleichgesinnten, bei denen sie hofft, sich nicht weiter aufsplittern zu müssen, in Sex, Liebe, Intellekt. Lösungen hat sie auch dann keine: Aber ich lebe, sehe Frauen um mich herum aufwachen. Meine Welt wird immer bewohnbarer“.
Aktualität des Buches heute
Es ist anzunehmen, dass der derzeitige Zeitgeist des „Oversexed“ damals – während der „Sexuellen Revolution“ – begonnen hat und das Dilemma mit der Sexualität seither fortlaufend produziert wird. Das Verständnis von der Verfügbarkeit der Frauen und der Reduzierung von Liebe auf Sex und Sex auf ein Herumgeturne ist geblieben und damit die scheinbare Unerfüllbarkeit von dem, was Liebe genannt wird. Liebe, nach der sich doch alle zu sehnen scheinen – auch Männer. Das zweite Problem, das ebenfalls noch immer besteht, betrifft die gängige Auffassung, Feminismus sei eine Ideologie, die Frauen bevorzuge und Männer ausschließe. Sehr weit hat es sich noch nicht herumgesprochen, dass sich Feminismus als Weltanschauung gegen jede Form der Unterdrückung und Ausbeutung stellt, auch die der Natur. Dass es sich dabei um eine prinzipielle Herrschaftskritik an patriarchal-kapitalistisch-globalisierten Gesellschaften.handelt, an Herrschaftskonstrukten, in denen auch heute noch Gleichheitskonzepte aller Art dort halt machen, wo die Privilegien der herrschenden in Gefahr kommen könnten.
(Dagmar Buchta/dieStandard.at, 25.07.2010)